Damit Journalismus bei den Menschen, für die er gedacht ist, auch ankommt, ist es für uns Journalistinnen und Journalisten wichtig, zu verstehen, welche Bedürfnisse unsere Nutzenden haben: Was ist für sie relevant? Auf welche Weise möchten sie gerne informiert werden? Und wie können sie sich mit uns austauschen, wenn sie mehr wissen wollen? In einer digitalen Welt ist das wichtiger als früher – denn Journalismus konkurriert mit unzähligen anderen Angeboten um die Aufmerksamkeit der Menschen.
Ob wir als Freie oder Content Creator unterwegs sind, für eine Regionalzeitung, oder einen großen Sender arbeiten, spielt dabei keine Rolle: Nach unserem Verständnis im Bonn Institute kann Journalismus von allen für alle gemacht werden.
Und konstruktiver Journalismus, das ist menschenfreundlicher Journalismus – also Journalismus, der ausdrücklich das Wohl der Gesellschaft und die Interessen der Menschen in den Mittelpunkt stellt. Im Digital-Slang heißt das oft „nutzer-zentriert“. Aber uns im Bonn Institute gefällt „menschenfreundlich“ sehr viel besser.
Konstruktiver Journalismus ist ein Rahmen, der es uns erlaubt, diese Menschenfreundlichkeit mit Qualitätsmerkmalen näher zu beschreiben und die journalistischen Werkzeuge, unser Handwerk, systematisch im mit einem klaren Kompass weiterzuentwickeln. Daran arbeiten wir zusammen vielen Partnern und Redaktionen – sowohl in den deutschsprachigen Ländern als auch international.
Konstruktiver Journalismus zielt darauf ab, Mediennutzenden ein zukunftsorientiertes, faktenbasiertes und nuanciertes Bild der Wirklichkeit zu vermitteln. Indem er Lösungsansätze genauso sorgfältig recherchiert wie Probleme, wirkt er einer einseitig negativen Weltsicht entgegen und stärkt durch das Aufzeigen von Handlungsoptionen bei Mediennutzenden das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Indem er bewusst auf Vielfalt und unterschiedliche Perspektiven setzt, reflektiert er die Welt in ihrer ganzen Komplexität und wirkt übermäßiger Vereinfachung und Polarisierung entgegen. Und indem er die Rolle von Journalistinnen und Journalisten als Moderatoren eines öffentlichen konstruktiven Dialogs neu definiert, öffnet er neue Möglichkeiten für bessere Gespräche in unserer Gesellschaft.
Die drei Elemente des konstruktiven Journalismus
Lösungsfokus
Klassischerweise hört Journalismus da auf, wo ein Problem ausreichend benannt oder beschrieben ist. Konstruktiver Journalismus jedoch geht einen Schritt weiter: Er berichtet auch über Lösungsansätze für gesellschaftliche Probleme und weitet damit schon in der journalistischen Recherche den Blick. „Wer macht es besser?“ ist eine der zentralen Fragen, die sich lösungsorientiert recherchierende Journalisten stellen.
Problem talk creates problems, solutions talk creates solutions
Damit Berichterstattung über Lösungsansätze den Anforderungen an Qualitätsjournalismus entspricht, hat das Solutions Journalism Network vier Qualitätsmerkmale definiert, die Journalistinnen und Journalisten in ihrer Arbeit beachten sollten. Diese Merkmale können als Checkliste zur Qualitätssicherung von Recherche und Beitragserstellung dienen, und sie unterstützen lösungsorientiert arbeitende Journalistinnen und Journalisten in ihrem Bemühen, Greenwashing, Aktivismus und PR zu vermeiden.
1. Lösungsansätze rücken in den Vordergrund
Der Fokus der Berichterstattung liegt auf Lösungsansätzen und wie diese funktionieren. Auch im lösungsorientierten Journalismus werden Probleme aufgedeckt – nur hört die Berichterstattung dann nicht auf. Medienschaffende recherchieren, wie es weitergehen kann. Lösungsorientierter Journalismus zeigt auf, wie Menschen effektiv mit gesellschaftlichen Problemen umgehen. Eine zentrale Frage ist: „Wer macht es besser?“ Der Lösungsansatz ist aber nicht das Licht am Ende des Tunnels, kein letzter Absatz nach einem problembeladenen Beitrag, sondern Kern der Geschichte.
2. Evidenzen, die Wirksamkeit belegen
Lösungsjournalismus untersucht Ansätze, die bereits implementiert worden sind. Denn zentral ist nicht die gute Absicht, sondern die tatsächliche Wirksamkeit einer Idee. Für einen starken Lösungsbericht recherchieren Journalistinnen und Journalisten nach Evidenzen, die belegen, dass ein Ansatz effektiv ist. Dazu können sie Studien und Erhebungen prüfen, die den Erfolg von Lösungen zeigen. Außerdem kann die Wirksamkeit qualitativ belegt werden: beispielsweise von unabhängigen Experten oder in Gesprächen mit Menschen, die von einer Lösungsidee profitieren sollen.
3. Übertragbarkeit eines Ansatzes
In der Übertragbarkeit liegt die Relevanz einer Geschichte. Denn sie zeigt, warum ein Lösungsansatz berichtenswert ist. Ziel ist es, Erkenntnisse zu teilen, von denen andere lernen können. Die Besonderheit der lösungsorientierten Berichterstattung liegt darin, andere Fragen zu stellen. Wie genau funktioniert der Ansatz? Was müssen wir wissen, um ihn an einen anderen Ort zu übertragen? Inwiefern bestimmt die Umgebung den Erfolg der Lösung?
4. Grenzen und Hürden
In den seltensten Fällen handelt es sich bei Lösungsansätzen um Patentlösungen. Journalistinnen und Journalisten sollten Ideen nicht als Wundermittel präsentieren. So kritisch wie Lösungsjournalismus Evidenzen untersucht, zeigt er die Grenzen von Ansätzen auf. Erfolg ist meist keine Ja-Nein-Frage, sondern ein Zusammenspiel von Faktoren, die funktionieren und solchen, die nicht – oder noch nicht – funktionieren. Was an einem Ort funktioniert, kann woanders scheitern.
Perspektivenreichtum
Während der Lösungsjournalismus vor allem auf das journalistische Handwerk fokussiert, schaut der Perspektivenreichtum auch auf systemische Faktoren – sei im Hinblick auf die Personalauswahl oder auf ein besseres Verständnis eigener blinder Flecken und Voreingenommenheit: Ist mein Blick vielleicht verzerrt durch einen gewohnheitsmäßigen Fokus auf Negativität? Neige ich in der Recherche dazu, eigene Sichtweisen bestätigt zu bekommen? Sind in unserer Redaktion genügend unterschiedliche Menschen tätig, um die Vielfalt der Gesellschaft auch angemessen abzubilden?
Perspektivenreicher Journalismus ist relevanter Journalismus – denn er hat die Informationsinteressen der vielen verschiedenen Menschen in unserer Gesellschaft im Blick.
1. Diversität
Wie perspektivenreich eine Redaktion berichtet, hängt zwangsläufig mit ihrer personellen Diversität zusammen. Das Bonn Institute fasst darunter eine große Bandbreite an Diversitätsmerkmalen, wie beispielsweise soziale, ethnische und geografische Herkunft, Religion, sexuelle Identität, Geschlecht, aber auch Familienformen, Bildungsgrad oder der Wohnort.
Im Journalismus ist perspektivenreiche Berichterstattung für diverse Zielgruppen zum einen eine wirtschaftliche Notwendigkeit: „[…] nur Menschen, die ihre Lebensrealität in den Medien wiederfinden, sind auch bereit, dafür zu zahlen“, schreiben etwa die Neuen deutsche Medienmacher*innen auf ihrer Webseite. Zum anderen gilt für die öffentlich-rechtlichen Medien ein Grundversorgungsauftrag, aus dem ein Anspruch aller Bürgerinnen und Bürger auf umfassende Wissensvermittlung abgeleitet werden kann. Dieser kann wiederum nur dann eingelöst werden, wenn die Berichterstattung der Öffentlich-rechtlichen die Diversität unserer Gesellschaft hinreichend abbildet. Für die journalistische Praxis kann das bedeuteten, sich zu fragen, ob alle Stimmen einer Gesellschaft auch zu Wort kommen.
2. Komplexität
Perspektivenreiche Berichterstattung wirkt zudem gegen die übermäßige Vereinfachung komplexer Sachverhalte auf nur zwei Meinungen, Entscheidungsoptionen oder Pole. Unsere Welt ist nicht schwarz-weiß und die wenigstens Menschen haben radikale Meinungen. Diese Grautöne – oder bunten Farben – mit abzubilden, ist Aufgabe von Journalismus, wenn er nicht zur weiteren Polarisierung unserer Gesellschaft beitragen will.
Wie funktioniert das praktisch? Zum Beispiel durch Visualisierungen und das Arbeiten mit Daten. Oder, indem wir systemisches Denken in unsere Recherche mit einbeziehen: Wer ist noch betroffen – abseits der „üblichen Verdächtigen“? Wenn wir es schaffen, binäres Denken im Redaktionsalltag zu reduzieren, schaffen wir es auch das Problem der False Balance – also der falschen Ausgewogenheit verschiedener Positionen – zu vermeiden.
3. Blickwinkel & Zoom
Auch der Blickwinkel oder Zoom auf eine Geschichte können unsere Perspektive weiten. Unsere Geschichte verändert sich, wenn wir unterschiedliche Zoomstufen wählen: Das kann beispielsweise der Zeitraum sein, den wir in unserer Recherche betrachten, oder ein unterschiedlicher geografische oder gesellschaftlicher Fokus.
Nehmen wir den Zeitraum: So kann ich in der Berichterstattung über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine den 24. Februar 2022 als Startpunkt wählen, oder aber den Zeitpunkt der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahre 2014. Ich kann natürlich noch weiter zurückgehen in der Berichterstattung – und jedes Mal verändert sich die Geschichte. Größere Zeithorizonte helfen meist, ein vollständigeres Bild der Wirklichkeit zu zeigen. Aber auch den geografischen Fokus ich unterschiedlich justieren: So ist es denkbar, eine Geschichte von vor Ort zu erzählen (z.B. wie Waffenlieferungen sich konkret bei der Rückeroberung eines Ortes ausgewirkt haben) oder aber als internationaler Vergleich (z.B. welche europäischen Länder welche Waffen liefern). Der gesellschaftliche Fokus bestimmt, wie eine Geschichte erzählt wird. Hier kann aus der Perspektive einzelner Personen (mikro) berichtet werden, ganzer Gruppen (meso) oder aber ganzer Staaten (makro). Perspektivenreich zu berichten heißt, mehrere Zoomstufen und Blickwinkel gleichzeitig zuzulassen.
4. Selbstreflexion
Wie wirkt meine Berichterstattung auf Nutzende? Wie darauf, wie sie sich die Wirklichkeit vorstellen? Wovon ist mein eigener Blick auf die Realität geprägt? Diese und andere Fragen machen das vierte Merkmal des Perspektivenreichtums aus – die Selbstreflexion.
In der Psychologie ist schon lange bekannt, dass unser Gehirn bei dem Bemühen, die Welt zu verstehen, unbewusst auf erfahrungsbasierte Denkschemata und Heuristiken zurückgreift. Bewährten und in aller Regel unbewusste Abkürzungen sollen uns vor Überforderung bewahren und uns Orientierung geben. Aber neben diese Effekten kann dieses gewohnheitsmäßige Denken zu fehlerhaften Schlussfolgerungen, zu kognitiven Verzerrungen, führen.
Im Bonn Institute haben wir uns zur Aufgabe gemacht, Brücken zwischen Journalismus und Psychologie zu schlagen. Denn das Wissen um eigene kognitive Verzerrungen ist für Journalistinnen und Journalisten essenziell, um etwa dem Bestätigungsfehler nicht zu erliegen („Confirmation Bias”), bei dem das Gehirn Informationen, die in unser Weltbild passen, besonders geneigt ist, auch anzunehmen. Dieses Wissen um kognitive Verzerrungen hilft uns, möglichst objektiv zu berichten – wobei wir anerkennen, dass absolute Objektivität nicht erreichbar ist.
Konstruktiver Dialog
Der konstruktive Dialog bildet das dritte zentrale Element des konstruktiven Journalismus. Denn Journalistinnen und Journalisten sind nicht nur als Vermittlerinnen und Vermittler von relevanten Informationen und verschiedenen Perspektiven gefragt, sondern auch als Moderatorinnen und Moderatoren zwischen Menschen und Gruppen in der Gesellschaft. Konstruktiver Dialog ist damit ein wichtiges Werkzeug, um menschliche Verständigung zu organisieren: Orte (auch digitale) des Austauschs schaffen, Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund miteinander ins Gespräch bringen, friedliche, zukunftsgerichtete Debatten über relevante gesellschaftliche Fragen befördern und moderieren: All dies ermöglicht Fortschritt und kann wesentlich dazu beitragen, den sozialen Zusammenhalt sowie die Demokratie zu stärken und zersetzende Polarisierung zu vermeiden.
Bei der Entwicklung journalistischer Debatten-Formate, zum Beispiel im TV, können konstruktive Ansätze genau das leisten, was sich Nutzende laut Befragungen wünschen: Dass der Kern eines Problems herausgearbeitet und Wissen vermittelt wird – und dass neben Zukunfts- und Lösungsorientierung auch Dialog und Verständigung im Fokus stehen.
Jedes gute Gespräch setzt Zuhören voraus – und die Grundannahme, dass der andere recht haben könnte
Konstruktiver Dialog kann auch ein wichtiges Werkzeug sein, um eine dauerhaft tragfähige (Ver-)Bindung zwischen Medienschaffenden und dem Publikum aufzubauen. Zentral dabei ist, einen fortwährenden und intensiven Austausch über die Bedürfnisse der Nutzenden zu praktizieren, neue Zielgruppen anzusprechen und auf Augenhöhe zu kommunizieren. Konstruktiver Dialog ermöglicht so nachhaltiges Community-Building und Community-Management, von dem Medienschaffende wie -nutzende gleichermaßen profitieren.Das Bonn Institute hat für den konstruktiven Dialog ebenfalls vier Qualitätsmerkmale herausgearbeitet, die sich unter anderem aus Erkenntnissen der Mediationsforschung und der angewandten Sozial- und Kommunikationspsychologie ableiten lassen.
1. Gemeinsamkeiten statt Unterschiede
Beim konstruktiven Dialog geht es darum, nicht beim Referieren unterschiedlicher Positionen stehenzubleiben, sondern auch Gemeinsamkeiten und mögliche Lösungen in den Blick zu nehmen – anders als bei zahlreichen medialen Debatten, bei denen das Konfrontative und Trennende im Vordergrund steht. Es bringt eine Diskussion weiter, zu fragen: Welche berechtigten Interessen oder Bedürfnisse verbergen sich hinter den verschiedenen Positionen? Was ist allen wichtig oder trotz allem anschlussfähig? So werden neue Perspektiven und im besten Fall gemeinsame Wege freigelegt.
2. Empathisches Interesse
Die Bereitschaft, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen und sich mit einer anderen Position ernsthaft auseinanderzusetzen, ist Grundvoraussetzung für ein gutes Gespräch – auch im journalistischen Kontext, wie in Interview-Situationen, Diskussionsrunden oder beim Austausch mit Nutzenden. Wer sein Gegenüber verstehen will, muss zuallererst zuhören. Aktives Zuhören , und gegebenenfalls Rückfragen stellen, signalisiert Wertschätzung und befördert Verständigung. Jedes gute Gespräch setzt deshalb Zuhören voraus – und die Grundannahme, „dass der andere recht haben könnte“, wie es der Philosoph Hans-Georg Gadamer einmal formuliert hat.
3. Allparteilichkeit
Als Moderatoren des öffentlichen Gesprächs können Journalistinnen und Journalisten dabei helfen, Konflikte zu lösen – wie Mediatorinnen und Mediatoren bei Konflikten zwischen Einzelpersonen oder Gruppen. Was können Medienschaffende in dieser Hinsicht von ihnen lernen? Die professionelle Grundhaltung der Allparteilichkeit, zum Beispiel. Der Begriff soll zum Ausdruck bringen, dass die Mediatorin oder der Mediator sich allen Parteien gleichermaßen empathisch zuwendet und wertschätzend darauf achtet, dass die Anliegen und Erwartungen aller auch gehört werden. Das ist immer dann besonders wichtig, wenn gesellschaftliche Gruppen chronisch nicht gehört werden, weil sie sich beispielsweise weniger professionell Aufmerksamkeit verschaffen. Eine professionelle Grundhaltung der Allparteilichkeit hat ihre Grenzen da, wo sich Gesprächspartner nicht an vereinbarte Spielregeln im demokratischen Diskurs halten.
4. Blick nach vorn
Konstruktiver Dialog hat die Zukunft im Blick. Er legt den Fokus auf die Frage nach dem Wozu? (statt auf das Warum?) – und auf das Wohin? (statt auf das Woher?). Steve de Shazer, Psychotherapeut und Pionier der lösungsorientierten Beratung, hat es einmal so formuliert: „Problem talk creates problems, solution talk creates solutions.“ Von dieser Erkenntnis kann auch der Journalismus profitieren. Dem trägt konstruktiver Journalismus durch systemische Fragetechniken Rechnung, die den Blick nach vorne ermöglichen und Potenziale zeigen.