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Serie

Gemeinschaftssinn in Zeiten von Polarisierung: Was Journalismus dem "Wir-gegen-die" entgegensetzen kann

Wie sich Gemeinschaftssinn auf die Gefühle und Handlungen von Menschen auswirkt – und welche Tools und Tipps im journalistischen Alltag dabei helfen können, Polarisierungstendenzen zurückzudrängen: Teil 3 der Bonn-Institute-Serie "Psychologie im Journalismus".

Von Margarida Alpuim und Katja Ehrenberg

Diverse Wesen in einer Gruppe

Einführung

Ich bin, weil wir sind

(Ubuntu-Philosophie)

Im Sommer 2017 klagte der portugiesische Generalstaatsanwalt 18 Polizeibeamte wegen Hassverbrechen gegen sechs Schwarze mit Folter und Körperverletzung an. Die Polizei in einem Viertel im Großraum Lissabon behauptete, ein Mann habe Steine auf einen Einsatzwagen geworfen und sich der Festnahme widersetzt. Nachdem er abgeführt worden war, seien die anderen Männer auf die Polizeiwache gekommen, um gegen seine Festnahme zu protestieren. Sie hätten sich aggressiv verhalten, so dass sie ebenfalls in Gewahrsam genommen werden mussten. Die Männer sagten aus, sie seien mit Knüppeln geschlagen worden, während die Polizeibeamten sie rassistisch beleidigt und bedroht hätten. Nach Auffassung des Generalstaatsanwalts waren die Aufzeichnungen der Polizei angesichts von Zeugenaussagen und anderen Beweismitteln nicht glaubwürdig (1).

Der Vorfall ereignete sich in einem Wohnviertel mit niedrigem Durchschnittseinkommen, in dem es in der Vergangenheit immer wieder zu Spannungen zwischen Polizei und Anwohnern gekommen war, von denen viele People of Colour sind. In der Presse und in den sozialen Medien wurden extrem polarisierte Meinungen über die Entscheidung des Generalstaatsanwalts geäußert. Wie aber kann verhindert werden, dass Konflikte derart eskalieren?

Spannungen und Misstrauen entstehen in der Regel nicht von heute auf morgen, sondern entwickeln und verhärten sich über die Zeit. So war es auch bei dem skizzierten Beispiel. Eine wichtige Frage lautet deshalb: Wie kann Journalismus dazu beitragen, nicht nur die Fakten zu klären, sondern auch Dialog anzuregen und Vertrauen zu fördern?

Im Rahmen von eigenen Recherchen habe ich (Margarida) Anwohnerinnen und Anwohner sowie Polizeibeamte separat interviewt und über die jeweils andere Gruppe befragt: "Was bräuchten Sie, damit Sie ihnen mehr vertrauen?" Beide Gruppen sagten dasselbe: bessere Beziehungen zwischen der Bevölkerung und der Polizei (Community Policing) und einen konstruktiveren Dialog. Damit kamen hier zwei Prinzipien aus dem Konzept des Gemeinschaftssinns zur Sprache: "emotionale Bindung" und "gegenseitige Beeinflussung". Wir gehen weiter unten darauf ein, was genau sich dahinter verbirgt.

Diese Aussagen legen nahe: Es lohnt sich, bei der Berichterstattung über Konflikte angemessen zu berücksichtigen, was die Menschen verbindet und was den sozialen Zusammenhalt fördern kann.

Nicht nur eine gute Theorie: Der Fall der Kooperationsvereinbarung von Cincinnati

Während der Unruhen 2001 in Cincinnati, Ohio, eskalierten die Spannungen zwischen der örtlichen Polizei und der Schwarzen Community. Um den Konflikt zu lösen, wurde unter Aufsicht des lokalen Gerichts eine Kooperationsvereinbarung unterzeichnet. Sechs Jahre lang wurden Gruppen aus der Schwarzen Community, die städtische Polizei und andere Beteiligte gemonitort, während sie gemeinsam an Reformen zur Verbesserung der polizeilichen Praktiken arbeiteten. Das gerichtliche Monitoring endete nach dieser Frist, aber die positiven Ergebnisse motivierten die Gemeinschaft, die Vereinbarung aufrechtzuerhalten.

Dieser Artikel unserer Serie "Psychologie im Journalismus" zeigt, wie ein Verständnis des Konzepts und der Auswirkungen von "Gemeinschaftssinn" Dir helfen kann...

  • … die Gefühle und Verhaltensweisen derer besser zu verstehen, über die Du berichtest.

  • … sich bei der Berichterstattung über traditionell polarisierende Themen nicht nur auf das zu konzentrieren, was Gruppen trennt, sondern auch auf das, was sie gemeinsam haben.

  • … die Perspektiven von sozialen Gruppen nicht zu stark vereinfacht darzustellen.

  • … das soziale Verantwortungsbewusstsein Deiner Nutzerinnen und Nutzer zu fördern.

Die vier Elemente des Gemeinschaftssinns

Kurz und bündig

Gemeinschaftssinn ist das Gefühl, zu einer größeren Gruppe zu gehören, deren Mitglieder füreinander wichtig sind. Er gibt den Menschen Struktur, eine emotionale Fundierung und Unterstützung in praktischen Lebensfragen. Gemeinschaftssinn findet sich in Familien und Freundeskreisen, in Nachbarschaften und am Arbeitsplatz, in Sport- und anderen Fangruppen, in religiösen Organisationen und sozialen Bewegungen.

In einer recht poetischen, aber dennoch wissenschaftlichen Beschreibung definiert einer der beiden im Themenfeld führenden Autoren Gemeinschaftssinn als "Geist der Zusammengehörigkeit; ein Gefühl, dass es eine Autoritätsstruktur gibt, der man vertrauen kann; ein Bewusstsein, dass das Zusammensein Tauschbeziehungen und wechselseitige Vorteile mit sich bringt; und ein Spirit, der aus geteilten Erfahrungen entsteht, die in Form von Kunst bewahrt werden" (2).

1986 entwickelten zwei Experten für Gemeindepsychologie ein Rahmenmodell, um zu erklären, wie Gemeinschaftssinn das Leben von Menschen beeinflusst. Sie schlugen vier Prinzipien für Gemeinschaftssinn vor: 1. Mitgliedschaft, 2. Einfluss, 3. Integration und Bedürfnisbefriedigung sowie 4. gemeinsame emotionale Bindung (3). Kurz gesagt haben Menschen einen Gemeinschaftssinn, wenn...

...sie Teil einer Gruppe sind und sich von deren Mitgliedern akzeptiert fühlen.

  • Mitgliedschaft in einer Gruppe bringt auch Grenzen mit sich. Diese bieten emotionale Sicherheit, um Gefühle zu zeigen und Nähe zu entwickeln.

  • Gleichzeitig bedeuten Grenzen, dass es Menschen gibt, die dazugehören - und solche, die nicht dazugehören. Dazu später mehr.

...es ein Gefühl von Wichtigkeit, Bedeutung und gegenseitiger Beeinflussung gibt: Die Gruppe hat Einfluss auf ihre Mitglieder, einzelne Mitglieder beeinflussen die Gruppe, und die Mitglieder beeinflussen sich gegenseitig.

...sie Vorteile aus der Zugehörigkeit zur Gruppe ziehen - wie Status und Unterstützung bei der Lösung von Problemen.

...sie gemeinsame Geschichte, bedeutungsvolle Erfahrungen und Symbole teilen.

Im Rahmen Deiner journalistischen Arbeit kannst Du versuchen, die Aspekte von Gemeinschaftssinn in Wortbeiträgen wiederzufinden. Manchmal lässt sich erfassen, warum jemand einer bestimmten Gruppe angehört - wenn man genau zuhört, wie er oder sie beschreibt, welches Bedürfnis diese Gruppe in seinem Leben erfüllt. So erklärten beispielsweise ehemalige Anhänger von QAnon-Verschwörungsthesen gegenüber Politico (4) in ihren eigenen Worten, wie sie in die Gruppe hineingezogen wurden - und wie sie diese wieder verließen. Im ersten Artikel erinnerte sich die Interviewpartnerin Megan daran, wie isoliert sie während der Covid-19-Lockdowns war und dass sie, nachdem sie QAnon gefunden hatte, "die Welt als sicher empfand und sich energiegeladen, zuversichtlich, kreativ und voller Liebe fühlte".

Die Frage nach den Bedürfnissen oder sogar berechtigten Interessen hinter den Standpunkten und dem Zugehörigkeitsgefühl zu bestimmten Gruppen ist für die journalistische Arbeit sehr hilfreich. Bei Konflikten zwischen Menschen oder Gruppen hilft so ein Blick „hinter die Kulissen“, die Beteiligten besser zu verstehen. Was genau trennt sie? Und wo gibt es trotz aller Unterschiede Gemeinsamkeiten? Das wiederum kann Journalistinnen und Journalisten dabei unterstützen, nuancierter über Menschen, Ereignisse und Konflikte zu berichten - und eine Perspektive zu entwickeln, die mögliche Lösungen zulässt.

Einige relevante Auswirkungen

Jahrzehntelange Forschung hat immer wieder gezeigt, dass ein Gemeinschaftssinn für eine Gesellschaft in verschiedenen Lebensbereichen von Vorteil ist. Gemeinschaftssinn scheint demnach mit folgenden Faktoren verbunden zu sein:

Höhere Lebenszufriedenheit sowie körperliches und psychisches Wohlbefinden (5, 6):

  • So war zum Beispiel während der COVID-19-Lockdowns (7) Gemeinschaftssinn ein wichtiger Faktor, um die Angst und den Stress zu reduzieren, die durch die generelle Unsicherheit entstanden waren. Vielerorts koordinierten Freiwilligengruppen Hilfe für ältere Menschen und andere vulnerable Gruppen, um ihnen beim Einkaufen und anderen grundlegenden Alltagsbedürfnissen zu helfen. Darüber hinaus half das Wissen, dass auch andere Menschen von Lockdown oder Quarantäne betroffen waren, ein Gefühl von Verbundenheit und gegenseitigem Verständnis aufrechtzuerhalten.

Ein stärkeres Gefühl von Zielstrebigkeit und wahrgenommener Kontrolle sowie eine höhere politische Beteiligung:

  • Die Menschen haben eher das Gefühl, dass sie etwas für ihre Gemeinschaft tun können; ihr Verhalten kann zu Veränderungen beitragen (8);

  • Der Anteil der Menschen, die wählen gehen, sich an gewählte Vertreter wenden und sich für öffentliche Angelegenheiten einsetzen, fällt höher aus (9).

Mehr Beteiligung am Gemeinschaftsleben und besserer sozialer Zusammenhalt:

  • Beteiligung am Gemeinschaftsleben bezieht sich auf Aktivitäten wie: ehrenamtliche Arbeit, Engagement in lokalen Vereinen, Teilnahme an religiösen, sportlichen und kulturellen Aktivitäten oder Freizeitveranstaltungen (10);

  • Hoher Zusammenhalt innerhalb einer Gruppe hat viele Vorteile. Zugleich geht er häufig mit hohem Konformitätsdruck einher und bedeutet damit unter Umständen weniger persönliche Freiheit und Autonomie für die einzelnen Mitglieder (3).

Gemeinschaftssinn in einer Fernsehserie über Fußball

"Sunderland 'Til I Die" auf Netflix ist viel mehr als eine Dokumentation über den englischen Fußballverein Sunderland AFC. Die Serie zeigt, was für eine extrem verbindende Rolle ein Fußballverein in einer Region spielen kann. Die Stadt Sunderland hatte es schwer, nachdem sie ihren Status als wichtiger Standort der Schiffbauindustrie verloren hatte. In der Serie wird die Bedeutung des Fußballvereins unter anderem durch Realaufnahmen eines Priesters eindrucksvoll veranschaulicht, der in der örtlichen Kirche betet: "Lieber Gott, hilf Sunderland, denn der Erfolg unserer Mannschaft führt zum Erfolg und Wohlstand unserer Stadt. Amen."

Die positiven Effekte, die sich aus der Förderung des Gemeinschaftssinns ergeben, haben auch bei der Gestaltung umfangreicher öffentlicher Maßnahmen als Anregung gedient.

  • So ernannte die britische Premierministerin Theresa May 2018 die erste Ministerin für Einsamkeit (11). Diese war für ein nationales Programm zuständig, das die ernsthaften Gesundheitsprobleme angehen sollte, die aufgrund von Einsamkeit entstehen. Es basiert unter anderem auf Strategien zur Förderung des Gemeinschaftssinns.

Auch Journalistinnen und Journalisten können eine wichtige Rolle spielen – nicht nur bei der Recherche und Publikation von Lösungsansätzen rund um die Entstehung von Gemeinschaften, sondern auch bei der Förderung von Initiativen, die den Gemeinschaftssinn in ihrer Nutzer-Community stärken.

  • Ein gutes Beispiel für die erste Möglichkeit ist das Erzählen von Geschichten über Kommunen, die innovative Ansätze umgesetzt haben. So veröffentlichte die New York Times im Dezember 2021 einen Artikel über die britische Kleinstadt Frome, in der "Talking Cafés" eingerichtet wurden, "in denen sich Fremde treffen können", und "Talking Benches", in denen Gesundheitsexperten "mit jedem reden, der einfach nur plaudern möchte" (12).

Journalistinnen und Journalisten können auch selbst Projekte starten, die Menschen zusammenbringen, wie zum Beispiel beim Projekt "Melting Mountains", das nach den US-Präsidentschaftswahlen 2016 vom Evergrey-Newsletter-Team entwickelt wurde. Die Initiative bestand darin, eine "Busladung von Lesern, hauptsächlich Hillary-Clinton-Anhänger aus dem städtischen Seattle, [...] zu einem Treffen mit hauptsächlich Trump-Anhängern im ländlichen Oregon" zu bringen, wie es in einer Beschreibung des Projekts heißt. Die Reise führte zu einem besseren Verständnis der Lebensumstände des jeweils anderen und zu weiteren Gesprächen nach dem Treffen. Dies ist eines der vielen Good-Practice-Beispiele, die Ihr im Booklet des Constructive Institute "Listen Louder: How journalists can counter polarization" (13) finden könnt.

Fallstricke

Gemeinschaftssinn kann auch vertrackt sein

Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe führt manchmal zu einer "Wir-gegen-Die"-Haltung, die wiederum maßgeblich zu Polarisierung und Abgrenzung zwischen Gruppen beiträgt (2). Warum ist das so? Weil Menschen dazu neigen, über ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe eine positive soziale Identität aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Dies gelingt unter anderem dadurch, dass man die Ingroup – der man selbst angehört, - positiv von anderen Gruppen - den sogenannten Outgroups - abgrenzt (14). Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe bietet damit eine Möglichkeit, das eigene Selbstwertgefühl und ein positives Selbstkonzept zu stärken.

Dieser psychologische Prozess wirkt so schnell und stark, dass er sogar bei künstlichen, sogenannten Minimalgruppen funktioniert, die keinerlei soziale Bedeutung, gemeinsame Geschichte oder Ziele haben: Wenn Teilnehmende in einer Studie willkürlich oder sogar offensichtlich zufällig in zwei Gruppen, beispielsweise A und B, aufgeteilt werden, neigen sie immer noch dazu, ihre eigene Gruppe besser zu bewerten und zu behandeln als die Outgroup, - selbst wenn sie keinen persönlichen Vorteil davon haben (14). Die Social Identity Theory (SIT) befasst sich systematisch mit diesen Phänomenen und ihren Folgen und stellt eines der bedeutendsten Rahmenmodelle der Sozialpsychologie dar. Erkenntnisse aus der SIT finden in vielen Bereichen praktische Anwendung, von internationalen Beziehungen, Teambildung, Sport und Lokalpolitik bis zu persönlichen Beziehungen.

So nützlich und hilfreich es sein kann, allein über ein Label Teamspirit und ein gutes Gemeinschaftsgefühl innerhalb einer Gruppe zu erzeugen, so negativ sind die Folgen oft für die Beziehung zwischen unterschiedlichen Gruppen:

  • Bevorzugung der eigenen Gruppe - "Wir sind besser als Die".
    Menschen haben mehr Vertrauen zu und Empathie für die Mitglieder ihrer eigenen Gruppe. Gleichzeitig kommt es zu einer Abwertung und zu mangelndem Vertrauen gegenüber der Outgroup. In extremeren Fällen kann die Abwertung der Outgroup zu Vorurteilen, unterdrückenden Einstellungen und Diskriminierung führen (3, 15). Hierauf gehen wir in einer späteren Folge dieser Serie näher ein.

  • Outgroup-Homogenitätseffekt - "Die sind alle gleich".
    Die Kategorisierung von Menschen ist ein natürlicher Prozess kognitiver Vereinfachung, um die Welt zu organisieren und ihr einen Sinn zu geben. Jeder tut dies, oft unbewusst, sehr schnell und ohne sich dessen bewusst zu sein (16). Der Homogenitätseffekt gilt für alle Gruppen - für die, denen man angehört, und für die, denen man nicht angehört. Menschen neigen jedoch dazu, Personen aus Outgroups als einander ähnlicher wahrzunehmen als Personen aus der Ingroup (17). Beispielsweise neigen Europäer dazu, Asiaten als ähnlich aussehend wahrzunehmen, so wie Asiaten Europäer als identisch wahrnehmen. Entsprechende Forschung zeigt, dass der Effekt über die Wahrnehmung äußerlicher Ähnlichkeiten hinausgeht; es ist relevant zu verstehen, wie sich diese Effekte auf soziale Urteilsbildung, Vorurteile und Diskriminierung auswirken.

Allerdings kann dem Homogenitätseffekt entgegengewirkt werden: Die renommierte "Kontakthypothese" (18) besagt: Je mehr Menschen mit Personen aus anderen Gruppen interagieren, desto mehr erkennen sie, dass keineswegs alle gleich sind, desto mehr wissen sie übereinander, desto weniger Angst haben sie und desto mehr Empathie und positivere Einstellungen entwickeln sie einander gegenüber. Solche Prozesse tragen dazu bei, systematisch die Bevorzugung der Ingroup und Diskriminierung abzubauen und ein Gefühl gemeinsamer Menschlichkeit zu fördern.

Wenn Menschen sich kennenlernen, sehen sie den anderen in einem weniger negativen Licht, und Polarisierung und Vorurteile scheinen sich zu verringern. Das zeigt auch das Projekt „Deutschland spricht“ von Zeit online. Im Rahmen der Initiative wurden 2017 12.000 Menschen mit gegensätzlichen politischen Ansichten zu Einzelgesprächen zusammengebracht. Im Jahr 2018 wiederholten sie zusammen mit anderen Organisationen das Experiment mit 28.000 Menschen, das Gegenstand einer wissenschaftlichen Studie des Bonner Verhaltensökonomen Armin Falk war. Er fand heraus, dass "schon ein zweistündiges Gespräch zwischen Menschen mit völlig unterschiedlichen politischen Ansichten reicht, um die Polarisierung abzuschwächen" (19). Das Projekt wurde inzwischen ausgeweitet - allein 2022 fanden laut "My Country Talks" neun Events in fünf Ländern mit mehr als 15.000 Teilnehmenden statt. Im Juni 2023 starten die "World Talks".

Die Förderung eines engen Kontakts zu Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund ist auch für Journalistinnen und Journalisten selbst relevant. Je heterogener ein Redaktionsteam ist, desto geringer ist das Risiko, blinde Flecken zu übersehen und eine einseitige Erzählung zu liefern, in der sich viele Nutzerinnen und Nutzer nicht repräsentiert fühlen. Dies ist selbst in stark polarisierten Kontexten möglich, wie z. B. im Zusammenhang des israelisch-palästinensischen-Konflikts. Im Jahr 2021 stellte die israelische Zeitung Haaretz palästinensische Journalistinnen und Journalisten mit israelischer Staatsbürgerschaft ein und bildete sie aus, um neue Perspektiven auf lokale Themen abzubilden und eine nuanciertere Beschreibung der Ereignisse zu ermöglichen (13).

"Gemeinschaftssinn ist kein statisches Gefühl" und werde unter anderem von den Medien beeinflusst, betonen McMillan und Chavis, die beiden Autoren des Rahmenkonzepts, in ihrem Beitrag (3). Das bedeutet, dass Journalismus Teil der Lösung sein kann, wenn er Strategien einsetzt, die den Spannungen zwischen Ingroups und Outgroups und ihren negativen Folgen entgegenwirken, indem er beispielsweise wie bei "My Country Talks" Filterblasen durchbricht oder die Grenzen zwischen den Gruppen neu zieht. Wenn eine übergeordnete Kategoriebezeichnung verwendet wird, beginnen diejenigen, die früher verschiedenen Gruppen angehörten, eine gemeinsame Gruppenidentität zu teilen (20). Ein Beispiel: Die Fans zweier lokaler Mannschaften in einem Land schließen sich bei einem internationalen Turnier zu Anhängern der Nationalmannschaft zusammen.

Im nächsten Abschnitt findest Du weitere Strategien, um die Auswirkungen des Phänomens "Wir gegen Die" auf Dich (als Journalistin oder Journalist) und Deine Berichterstattung abzuschwächen.

Tools und Tipps

Wissen über den Gemeinschaftssinn und seine Folgen kann helfen, Journalismus besser zu machen. In diesem Abschnitt stellen wir vor, wie dies in der täglichen Praxis funktionieren kann.

Bevor Du mit der Berichterstattung beginnst, frage Dich:

  • Wie kann ich den besten Blickwinkel auf die Geschichte finden?
    • Achte nicht nur auf das, was Menschen oder Gruppen trennt, sondern auch auf das, was sie gemeinsam haben.

    • Wähle einen eher individuellen/persönlichen Ansatz: Erzähle, was eine Gemeinschaft für das Leben einer Person bedeutet. Zwei Beispiele findest Du im Kasten.

    • Probiere eine neue Art von "Unboxing": Versuche, abweichende Überzeugungen innerhalb einer Gruppe zu finden, oder sprich zunächst mit jemandem, den Du für ein eher untypisches Mitglied der Gruppe halten würdest.

  • Sehe ich mich in dieser Geschichte als Teil einer der Gruppen, über die ich berichten werde?

  • Was kann ich tun, um meine eigene (unbeabsichtigte) Voreingenommenheit gegenüber der einen oder anderen Gruppe auszugleichen? Ziehe zum Beispiel in Erwägung, mit Journalistinnen oder Journalisten zusammenzuarbeiten, die einen anderen Hintergrund haben. Auch hier ist Vielfalt in der Redaktion ein Schlüssel.

In Japan eröffnet die Sendung "Minna de Hikikomori Radio" einen Dialog mit jungen Menschen, die völlig isoliert in ihren Zimmern leben (das Phänomen wird "Hikikomori" genannt). Diese Sendung bietet den betroffenen Zuhörerinnen und Zuhörern die Möglichkeit, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten - sie können sich beteiligen, indem sie Nachrichten senden - und sich als Teil einer größeren Gemeinschaft fühlen; gleichzeitig ermöglicht sie ihren Familien, besser zu verstehen, wie ihre Kinder, Geschwister usw. fühlen und denken.

In dem Podcast "First Person" der New York Times erzählt die Moderatorin Lulu Garcia-Navarro "Geschichten, die die Überzeugungen von Menschen prägen". Das Ziel ist es zu verstehen, wie Menschen dazu gekommen sind, zu glauben, was sie glauben.

Interviews

Stelle Fragen, die einen konstruktiven Dialog mit mehreren Interessengruppen oder zwischen Konfliktparteien ermöglichen. Hier sind einige Beispiele - ausgewählt aus einer Übersicht, die das Solutions Journalism Network entwickelt hat ("22 questions to complicate the narrative"), und aus einer vom Bonn Institute erstellten Sammlung.

  • Was schätzen Sie trotz aller Unterschiede aneinander?

  • Gibt es irgendeinen Aspekt der [alternativen] Position, der für Sie Sinn ergibt?

  • Was möchten Sie, dass die andere Seite über Sie weiß? Was möchten Sie über die andere Seite wissen?

  • Angenommen, Sie würden Ihren Konflikt beilegen und einen echten Konsens finden, der für alle von Vorteil wäre. Was wäre ein wichtiger Aspekt bei einem solchen Konsens?

  • Wie hat sich dieser Konflikt auf Ihr Leben ausgewirkt?

Bearbeitung der Geschichte

Frage Dich selbst:

  • Erläutere ich, warum jede Gruppe so denkt und handelt, wie sie es tut, und was die Menschen dazu gebracht hat, sich zusammenzuschließen?

  • Basiert das Stück auf einer "Schwarz-Weiß" - Darstellung der Realität? Stelle ich die Gruppen als in Stein gemeißelte Einheiten dar? Oder beziehe ich Nuancen ein, die Wissen über die verschiedenen Gruppen und ihre innere Diversität erweitern?

  • Informiere ich über Gemeinsamkeiten? Oder verstärke ich polarisierende Kräfte?

  • Hinterlässt meine Geschichte bei den Menschen das Gefühl, dass wir letztlich alle gemeinsam gleichermaßen Menschen sind?

Es gibt auch andere Möglichkeiten, wie Redaktionen den Gemeinschaftssinn fördern können, zum Beispiel durch die Erprobung innovativer Ansätze:

Veranstaltungsformate vor Publikum mit Live-Aufnahmen von Interviews, Podcasts oder sogar Theaterstücken und Musikshows, die auf Nachrichten basieren.

  • Wenn Du mehr über diese Formate und andere innovative Projekte erfahren möchtest, schau doch mal hier rein: Pop-Up Magazine (USA), Live Magazine (Frankreich) und Zetland Live (Dänemark). Forschungen legen nahe, dass diese Auftritte das Vertrauen in Journalismus stärken und einen Gemeinschaftssinn unter den Teilnehmenden fördern, und zwar „aufgrund der physischen Nähe und der gemeinsamen Reaktionen“ (21).

Schaffung sicherer Räume für schwierige Gespräche über polarisierende Themen unter den Zuschauenden. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen, wie die in diesem Artikel bereits erwähnten Projekte „My Country Talks“ und „Melting Mountains“.

  • Ein weiteres Beispiel ist das BBC-Projekt „Crossing Divides“. Die Initiative brachte junge Menschen aus 119 Ländern zu einer Schulung in Deep Listening und zu konstruktiven Gesprächen zusammen. „Ich hatte noch nie zuvor gesehen, dass so gegensätzliche Meinungen friedlich und glücklich in einem Raum koexistieren“, sagt einer der Teilnehmenden am Ende des Projekts.

Von der Konfliktlösung bis hin zu ganz anderen Feldern, wie der Architektur, werden die Grundsätze des Gemeinschaftssinns bei der Entwicklung von Projekten angewandt. Im Folgenden schlagen wir drei anregende Ansätze zu diesem Thema vor:

“Ein Mensch ist ein Mensch durch andere Menschen”, Zitat von Desmond Tutu (“On the nature of human community”, in God Is Not a Christian: And Other Provocations, 2011). In dieser Sammlung von Reden spricht der südafrikanische anglikanische Erzbischof, der auch Friedensnobelpreisträger und Leiter der Wahrheits- und Versöhnungskommission nach der Apartheid war, über „Ubuntu“, einen Bantu-Begriff, der grob mit „Ich bin, weil wir sind“ übersetzt werden kann. Tutu nannte es die afrikanische Lebensphilosophie, einen Kompass für das Leben in der Gesellschaft: „Ubuntu ist die Essenz des Menschseins. […] Ich kann nur ich sein, wenn du ganz du bist.“

Diébédo Francis Kéré ist ein preisgekrönter Architekt, dessen Arbeit auf den Werten des Gemeinschaftssinns beruht. Der ursprünglich aus Burkina Faso stammende Francis Kéré war 2022 Preisträger des Pritzker-Architekturpreises (ein jährlich vergebener weltweiter Architekturpreis). Kéré, der heute in Berlin lebt, wurde dafür ausgezeichnet, dass er durch die Verwendung lokaler Materialien und die Einbindung der Menschen vor Ort in seine Planungs- und Bauprozesse soziale Gemeinschaften umgestaltet.

„Die Austreibung des Anderen: Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute“, von Byung-Chul Han (Originaltitel: „Die Austreibung des Anderen: Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute“, 2016). Der südkoreanische Philosoph und Professor an der Universität der Künste in Berlin vertritt in diesem Essay unter anderem die These, dass die Vermassung gesellschaftlicher Prozesse die Idee des Anderen auf schädliche Weise eliminiert: „Nur durch die Rückkehr zu einer Gesellschaft von Zuhörenden und Liebenden, durch die Anerkennung und das Verlangen nach dem Anderen, können wir versuchen, die Isolation und das Leiden zu überwinden, die durch diesen erdrückenden Prozess der totalen Assimilation verursacht werden“.

Weitere Artikel zur Serie „Psychologie im Journalismus“ findest Du auf dieser Übersichtsseite.

Literaturverzeichnis

  1. Marcelina, V. (2017, July 10). Ministério Público acusa PSP de acism e tortura [Public prosecutor accuses police officers of racism and torture]. Diário de Notícias. https://www.dn.pt/portugal/ministerio-publico-acusa-psp-de-racismo-e-tortura-8627061.html

  2. McMillan, D. W. (1996). Sense of community. Journal of community Psychology, 24(4), 315-325.
  3. McMillan, D. W., & Chavis, D. M. (1986). Sense of community: A definition and theory. xi, 14, 6-23.
  4. Carrier, A. (2021, August 13). Qanon Almost Destroyed My Relationship. Then My Relationship Saved Me From Qanon. Politico. https://www.politico.com/news/magazine/2021/08/13/qanon-radicalization-bernie-sanders-supporter-503295
  5. Davidson, W., & Cotter, P. (1991). The relationship between sense of community and subjective well-being: A first look. Journal of Community Psychology, 19, 246-253.
  6. Elvas, S., & Moniz, M. J. V. (2010). Sentimento de comunidade, qualidade e satisfação de vida [Sense of community, life quality and life satisfaction]. Análise Psicológica, 3, 451-464.
  7. Mannarini, T., Rizzo, M., Brodsky, A., Buckingham S., Zhao, J., Rochira, A., & Fedi, A. (2021). The potential of psychological connectedness: Mitigating the impacts of COVID-19 through sense of community and community resilience. Journal of Community Psychology, 50(5), 2273-2289.
  8. Evans, S. D. (2007). Youth sense of community: Voice and power in community contexts. Journal of Community Psychology, 35(6), 693-709.
  9. Davidson, W. B., Cotter, P. R. (1989). Sense of community and political participation. Journal of Community Psychology, 17(2), 119-125.
  10. Cicognani, E., Pirini, C., Keyes, C., Joshanloo, M., Rostami, R., & Nosratabadi, M. (2008). Social participation, sense of community and social well being: A study on American, Italian and Iranian university students. Social Indicators Research, 89, 97-112.
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  16. Vala, J., & Monteiro, M. B. (2004). Psicologia Social (6.ª ed.) [Social Psychology (6th ed.)]. Lisbon: Fundação Calouste Gulbenkian.
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  18. Pettigrew, T. F., & Tropp, L. R. (2006). A meta-analytic test of intergroup contact theory. Journal of Personality and Social Psychology, 90(5), 751-783.
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  20. Brown, R. (2000). Social Identity Theory: past achievements, current problems and future challenges. European Journal of Social Psychology, 30, 745-778.
  21. Ruotsalainen, J., & Villi, M. (2021). ‘A Shared Reality between a Journalist and the Audience’: How Live Journalism Reimagines News Stories. Media and Communication, 9(2), 167–177.

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