Einleitung
Betrachte die folgenden drei Szenarien. Was haben sie gemeinsam?
- Im Jahr 2002 veröffentlichte das Spotlight-Team des Boston Globe das Ergebnis einer Untersuchung über die systematische Kultur des Verschweigens von Fällen von Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche. Die Folgen waren historisch (z. B. Rücktritt lokaler Spitzenkleriker, Millionenzahlungen von der Kirche an die Opfer, Versuche, die Gesetzgebung so zu ändern, dass sie Geistliche dazu verpflichtet, Fälle den Zivilbehörden zu melden) und führten im Laufe der Jahrzehnte zur Veröffentlichung nationaler Berichte über Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche in anderen Ländern, darunter in Irland (2009), Deutschland (2018), Portugal (2023) und Spanien (2023).
- Jack Healy, ein Reporter der New York Times, hat schon über viele Massenerschießungen berichtet, aber erst als er im November 2022 ein Gespräch mit der Mutter eines Opfers der Schießerei im LGBTQ-Club Q in Colorado (USA) führte, wurde ihm bewusst, "wie sehr sich die Opfer und ihre Familien darauf vorbereiten müssen, einem Mörder vor Gericht gegenüberzutreten". In einer Geschichte hinter den Kulissen erklärt Healy, wie dieses Gespräch "die Kernidee für einen Artikel" darüber geliefert hat, was diese Mutter in den drei Minuten sagen wollte, die das Gericht ihr zugestanden hatte;
- Neben vielen anderen Faktoren wird Burnout bei Journalistinnen und Journalisten mit einer erhöhten Arbeitsbelastung sowie einem geringen Maß an Autonomie, mangelnder wahrgenommener organisatorischer Unterstützung und schlechtem kollegialem Zusammenhalt in Verbindung gebracht (1). Außerdem entsteht manchmal der Eindruck, dass die Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz die Beschäftigten davon abhalten, psychische Probleme offenzulegen (2).
Trotz aller Unterschiede geht es bei allen drei Beispielen um verschiedene Ebenen von Macht im Journalismus. Der erste Fall spielt auf die Macht von Journalistinnen und Journalisten an, Politik und andere Entscheidungsträger zur Rechenschaft zu ziehen. Deshalb wird Journalismus auch als Vierte Gewalt im Staat bezeichnet. Das zweite Beispiel zeigt, wie Journalistinnen und Journalisten in jeder Phase ihrer Arbeit Macht ausüben, von der Wahl des Blickwinkels einer Geschichte bis hin zur Entscheidung, was veröffentlicht wird, wie die Geschichte erzählt wird und was ungesagt bleibt. Diese Macht erfordert gewissenhafte Entscheidungen und eine sorgfältige Erzählweise. Mit dem letzten Beispiel erkennen wir an, dass sich einzelne Journalistinnen und Journalisten zugleich auch in machtlosen Positionen befinden können, zum Beispiel wenn sie an ihrem Arbeitsplatz wenig Kontrolle über ihr Arbeitspensum und ihre Pausen erleben, wenn sie schlechte Beziehungen zu Kolleginnen und Kollegen und/oder Vorgesetzten haben oder wenn ihre Arbeit finanziell oder insgesamt unsicher ist.
Damit Journalistinnen und Journalisten in der Lage sind, sich professionell durch die verschiedenen Ebenen von Macht in der sozialen Umwelt zu bewegen, ist es wichtig, dass sie verstehen, wie Macht funktioniert; was Menschen dazu bringt, sich mächtig oder machtlos zu fühlen; und wie unterschiedlich Menschen denken und sich verhalten, je nachdem, ob sie Macht erleben oder nicht.
In diesem Teil der Serie "Psychologie im Journalismus", werden wir ...
- eine Definition von Macht aus dem Bereich der Sozialpsychologie vorstellen,
- einen spezifischen Rahmen beschreiben, um zu erklären, wie Macht unsere kognitiven und sozialen Prozesse beeinflusst, und
- eine Liste von Fragen vorschlagen, die Journalistinnen und Journalisten helfen können, darüber nachzudenken, wie Macht ihre beruflichen Aktivitäten und Entscheidungen beeinflusst.
Was ist Macht?
Wovon sprechen wir, wenn wir von "Macht" sprechen oder wenn wir sagen, dass jemand "mächtig" oder "machtlos" ist? Im Laufe der Menschheitsgeschichte haben Intellektuelle aus Philosophie, Ökonomie, Politikwissenschaft und anderen Disziplinen unzählige Definitionen von Macht aufgestellt. Jede Definition bietet einen Blickwinkel, um die Welt und die Beziehungen zwischen Einzelpersonen und Gruppen zu betrachten.
Es ist allgemein anerkannt, dass die Ausübung von Macht in allen Bereichen des Lebens stattfindet. Wir finden sie in großen Institutionen, die wir als wirtschaftliche, religiöse, politische oder militärische Macht bezeichnen, in sozialen Gruppen, wie z. B. ethnischen, geschlechtsspezifischen und sozialen Klassen, in Führungsrollen am Arbeitsplatz und in Familien und anderen engen persönlichen Beziehungen (3). In den Nachrichten geht es oft um die Ausübung von Macht in einem oder mehreren dieser Kontexte - sei es der Kampf um Macht, der Missbrauch von Macht oder die Vorteile, die sie mit sich bringt.
In diesem Artikel stellen wir die Annäherungs-/Hemmungstheorie der Macht des Psychologen Dacher Keltner und seiner Kollegen vor und übernehmen die dort zugrunde gelegte Definition, nach der Macht verstanden werden kann als "die relative Fähigkeit einer Person, den Zustand anderer zu verändern, indem sie Ressourcen bereitstellt oder zurückhält oder Strafen verhängt" (4).
Nach dieser Definition können Personen Ressourcen wie Zuneigung, Informationen, Aufmerksamkeit, Geld, Humor, Entscheidungsmöglichkeiten, Kontakte und Empfehlungen zur Verfügung stellen oder vorenthalten; und sie können Bestrafungen z.B. in Form von Hänseleien, Beschimpfungen, Ausgrenzung, körperlichen Verletzungen oder auch Kündigungen vornehmen (4).
Viele Studien befassen sich mit den Auswirkungen von Macht auf diejenigen, die ihr unterworfen sind. Der theoretische Rahmen, auf den sich dieser Artikel stützt, versucht jedoch zu verstehen, wie sich Macht auf diejenigen auswirkt, die sie innehaben (4) - was sich natürlich wiederum dynamisch auf das Sozialverhalten auswirkt.
Die Annäherungs-/Hemmungstheorie der Macht
Menschen mit viel und wenig Macht bewohnen und schaffen durch ihr eigenes Handeln auffallend unterschiedliche Welten.
Die Annäherungs-/Hemmungstheorie der Macht wurde erstmals 2003 veröffentlicht (4) und im Jahr 2020 überarbeitet (5). Für einige gilt sie als "die einflussreichste Theorie der Macht" (6) und wurde von vielen anderen Forschungsgruppen, die sich von ihr inspirieren ließen, aufgegriffen und erweitert (6).
Dieses Rahmenmodell hilft uns zu verstehen, wie sich Macht auf unser Denken (z. B. wie schnell wir denken können) und unser Sozialverhalten (z. B. Selbstdarstellung und Aufmerksamkeit für andere) auswirkt (3).
Die grundlegenden Prozesse für die Annäherungs-/Hemmungstheorie der Macht (7):
- Unser Verhalten wird von zwei grundlegenden Handlungstendenzen bestimmt: Annäherung und Vermeidung. "Ein Hund, der ein Kaninchen jagt, ein Kind, das vor dem Geruch von gekochtem Spinat zurückschreckt" (7), eine Journalistin, die einem Interviewpartner die Hand reicht, ein Reporter, der seiner Redakteurin aus dem Weg geht, usw.
- Jede dieser Handlungstendenzen ist mit einer Reihe von psychologischen Prozessen verbunden: dem "Annäherungssystem" und dem "Vermeidungs- oder Hemmungssystem".
Die Annäherungs-/Hemmungstheorie besagt, dass eine Machtposition das Annäherungssystem aktiviert (4), das Denken, Sprechen und Handeln anregt und Motivation und Zielstrebigkeit verstärkt (3), während Machtlosigkeit das so genannte Hemmungssystem aktiviert, das zu einem eingeschränkteren Verhaltensspektrum und höherer Wachsamkeit, z. B. gegenüber Gefahren, führt (4).
Erfahrene Journalistinnen und Journalisten könnten sich zum Beispiel machtvoll fühlen, wenn sie eine Pressekonferenz betreten. In diesem Fall könnte ihr Annäherungssystem aktiviert werden, was ihr Selbstvertrauen stärkt, sich in die erste Reihe zu setzen, und eine allgemeine soziale Enthemmung begünstigt, einhergehend mit besserem Fokus auf Thema oder Person, einer erhöhten Denkgeschwindigkeit beim Stellen von Fragen, und so fort.
Auf der anderen Seite könnten sich weniger erfahrene Reporterinnen oder Reporter eher machtlos fühlen und ihr Hemmungssystem könnte angesprochen werden, was einen höheren Grad an Angst, Unsicherheit, Wachsamkeit gegenüber den Handlungen anderer und Einschränkung des eigenen Verhaltens mit sich bringen kann.
Wir werden uns in unserer Diskussion auf drei Bereiche konzentrieren, die davon beeinflusst werden, ob wir das Gefühl haben, Macht zu haben oder nicht: Aufmerksamkeit, Informationsverarbeitung und Sozialverhalten. Wir haben diese drei Bereiche ausgewählt, weil sie durch Studien und Ergebnisse besonders gut belegt sind. Die Theorie, die wir hier zugrunde legen, formuliert auch Hypothesen darüber, wie mehr Macht die Wahrscheinlichkeit erhöht, "positive Stimmungen und Emotionen zu erleben und auszudrücken" (4). Allerdings scheint weitere Forschung in diesem Kontext notwendig zu sein, um besser zu verstehen, wie Macht und Emotionen zusammenhängen (6).
Auswirkungen auf Aufmerksamkeit, Informationsverarbeitung und soziales Verhalten
Man könnte meinen, dass Eigenschaften, die oft mit Menschen in Machtpositionen in Verbindung gebracht werden - wie z. B., fokussiert oder zielorientiert zu sein und gute Entscheidungen treffen zu können - ihrem Wesen entsprächen und vielleicht sogar der Grund dafür seien, dass sie überhaupt an eine Machtposition gekommen sind. Die Forschung zeigt jedoch, dass auch das Gegenteil der Fall ist: Wenn man Menschen in einem Experiment in eine Machtposition bringt, scheint es diese und weitere psychologische Kompetenzen zu aktivieren (z. B. 3). Lasst uns mehr über die Auswirkungen von Macht auf Aufmerksamkeit, Informationsverarbeitung und Sozialverhalten sprechen.
1) Macht beeinflusst, worauf Menschen ihre Aufmerksamkeit richten
Nach der Annäherungs-/Hemmungstheorie der Macht sind Menschen mit Macht zielorientierter und lassen sich weniger ablenken (6). Mächtige Menschen "können sich ausschließlich auf Informationen konzentrieren, die mit ihren Zielen, Bedürfnissen, Erwartungen oder bedeutendsten Aspekten der Umgebung zusammenhängen, und andere Informationen ignorieren" (8), während Menschen ohne Macht eventuell "nicht nur auf die anstehende Aufgabe achten, sondern auch auf andere Informationsquellen, die mit den Einschränkungen, die sie erleben, zusammenhängen" (8), wie z. B. etwas, das ihre Leistung bedroht (5).
In dem oben beschriebenen Szenario der Pressekonferenz könnten sich erfahrenere Reporterinnen oder Reporter zum Beispiel auf das konzentrieren, was sie brauchen, um in dieser Situation erfolgreich handeln zu können - d.h. den besten Platz im Raum zu finden, Gelegenheiten zum Eingreifen zu erkennen, Antworten zu hören, die helfen könnten, interessante Folgefragen zu formulieren. Auf der anderen Seite würden weniger erfahrene Journalistinnen oder Journalisten wahrscheinlich mehr auf den Eindruck achten, den andere von ihnen haben, auf die technischen Details der Ausrüstung, die spezifischen Regularien der Veranstaltung usw.
Dieser Effekt kann auch dann zum Tragen kommen, wenn medienerfahrene Politikerinnen oder Politiker besonders gut in der Lage sind, an ihrem Skript festzuhalten oder das Narrativ zu kontrollieren, selbst wenn Journalistinnen oder Journalisten ihnen Fragen stellen, die weniger erfahrene oder weniger mächtige Politikerinnen oder Politiker aus der Bahn werfen könnten. Um ihre Botschaft zu vermitteln, greifen Politikerinnen oder Politiker, die das Gefühl haben, die Situation unter Kontrolle zu haben (ein Zeichen von Macht), häufig auf bekannte "Spin-Taktiken" zurück: Sie wiederholen dieselben Ideen, um die Beantwortung anderer Fragen zu vermeiden, und wechseln von einem schwierigen Thema zu einem, über das sie sprechen wollen (weitere Informationen und reale Beispiele findest Du im folgenden Kasten) (9).
Zwei Spin-Taktiken
"Bei der Sache bleiben". Die Wiederholung der gleichen Botschaft, um die Beantwortung bestimmter Fragen zu vermeiden, könnte ein relativ harmloser Schachzug sein, wenn er sparsam eingesetzt wird. Diese Taktik könnte allerdings auch einen "illusorischen Wahrheitseffekt" bezwecken, was bedeutet, dass eine oft wiederholte Botschaft eher als wahr wahrgenommen wird (10, siehe Artikel Nr. 1 dieser Reihe). Allerdings wird das Festhalten an einer Botschaft tendenziell als "eine Form der Verschleierung" (9) angesehen, wenn sie ständig verwendet wird. Hier ein Beispiel von einer Pressekonferenz aus dem Jahr 2008: Cullen Sheehan, der damalige Sprecher des republikanischen Senators Norm Coleman aus Minnesota, wiederholte auf die Frage nach bestimmten Geschenken, die der Senator erhalten hatte, innerhalb von etwa vier Minuten mehr als zehn Mal dieselbe Antwort: "Der Senator hat jedes Geschenk gemeldet, das er je erhalten hat.
"Umschwenken". Der Themenwechsel von einem unerwünschten Thema zu einem günstigeren ist in der Politik weit verbreitet, und Untersuchungen zeigen, dass das Publikum diese Ausweichmanöver oft nicht bemerkt, es sei denn, der Themenwechsel ist extrem (11). In diesem Beispiel schlüsselt NPR einen klaren Themenwechsel in einer Debatte zwischen Präsident George W. Bush und Senator John Kerry im Jahr 2004 auf (dies ist nur ein Beispiel; Themenwechsel werden in fast allen Debatten verwendet). Der Moderator stellt eine Frage über den Verlust von Arbeitsplätzen in den USA; Bush beginnt sie zu beantworten: "Ich habe Strategien, um unsere Wirtschaft weiter wachsen zu lassen" - und plötzlich, nach 20 Worten zum Arbeitsplatzverlust, schwenkt er zum Thema Bildung um - "und hier ist etwas Unterstützung für Dich, um eine Ausbildung zu bekommen".
Was können Journalistinnen und Journalisten tun, um solchen Mustern entgegenzuwirken, ohne sich auf Konfrontationen einzulassen? Caroline Fisher, ehemalige Journalistin und Medienberaterin, die derzeit politische Kommunikation und Journalismus an der Universität von Canberra, Australien, lehrt, schlägt vor, dass Journalistinnen und Journalisten einfühlsam und durchsetzungsfähig sein können, indem sie die Geschehnisse explizit benennen (12). Genau das hat ein Journalist in der im Kasten beschriebenen Pressekonferenz getan. Als ein Sprecher immer wieder die gleiche Botschaft wiederholte, sagte dieser Journalist: "Ich verstehe, dass Sie nicht auf jeden Online-Post reagieren wollen, aber Sie bekommen hier Fragen von Reporterinnen und Reportern und ich verstehe nicht, warum Sie darauf nicht antworten. Können Sie mir das erklären?".
Diese bessere Fähigkeit, zielrelevante Merkmale zu unterscheiden und zielkonformes Verhalten zu priorisieren, macht es mächtigen Menschen leichter als weniger mächtigen Menschen, wünschenswerte Ergebnisse zu erreichen (5). Diese Ziele sind nicht immer eigennützig. Sie können auch prosozial sein. Eine mitfühlende Person, die eine Machtposition innehat, könnte sich auf Ziele konzentrieren, die anderen zugutekommen - z. B. eine Petition unterstützen und/oder Geld für einen sozialen Zweck sammeln, sich für eine Gesetzgebung zum Schutz sozial schwacher Gruppen einsetzen usw. (13).
2) Macht beeinflusst, wie Menschen Informationen verarbeiten
Macht scheint die kognitive Verarbeitung oft positiv zu verändern, indem sie mentale Prozesse verbessert, wie z. B. die Aufmerksamkeitslenkung, Kontrolle über Gedanken und Verhalten, um das zu tun, was man will, ebenso den Abruf und die Nutzung von im Gedächtnis gespeicherten Informationen (14). Diese Prozesse erleichtern wiederum die Planung, Problemlösung und Entscheidungsfindung. Wie die mit Macht ausgestattete Person dieses Potenzial dann einsetzt, ist, wie bereits erwähnt, eine andere Sache.
Was die Verarbeitungsgeschwindigkeit angeht, deuten einige Forschungsarbeiten darauf hin, dass Macht die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Menschen ihr soziales Umfeld stärker automatisch wahrnehmen und analysieren (4), also auf eine Art und Weise, die schneller ist, weniger Anstrengung erfordert und weniger von konkurrierenden Aufgaben beeinflusst wird (14). Eines der Argumente für eine höhere Reaktionsgeschwindigkeit ist die Tendenz von Menschen in Machtpositionen, sich auf ihr Bauchgefühl zu verlassen (3) und Informationen selektiv zu verarbeiten (8) - im Gegensatz zu Menschen mit weniger Macht, die ihre Aufmerksamkeit auf mehrere Informationsquellen verteilen, darunter auch solche, die für die Situation irrelevant sind, was dann zu Unentschlossenheit führt und Handlungen verzögert (8). Andere Studien gehen davon aus, dass mit Macht ausgestattete Personen auch eine stärker kontrollierte Informationsverarbeitung haben könnten, wenn auch mit weniger Aufwand als Menschen ohne Macht, weil letztere dieselbe Umgebung als herausfordernder wahrnehmen (14). Interessanterweise deuten weitere Ergebnisse darauf hin, dass Macht weniger eine bestimmte Art der Informationsverarbeitung fördert, als dass sie dazu führt, dass sich Menschen frei fühlen, ihre bevorzugte oder dominante Verarbeitungsstrategie zu nutzen, die dann entweder eher automatisch oder eher kontrolliert und systematisch ist (15).
Außerdem erhöht das Gefühl von Macht die Flexibilität und Kreativität (14). Menschen in Machtpositionen scheinen eher in der Lage zu sein, den Fokus ihrer Aufmerksamkeit und die Art und Weise, wie sie Informationen verarbeiten, an die jeweilige Situation anzupassen. Wenn man sich psychisch sicher fühlt und gut gelaunt ist (beides korreliert wahrscheinlich mit Macht; 16), fällt es einem außerdem leichter, abweichende Denkweisen und interessante, unkonventionelle Ansätze zu nutzen als in angespanntem Zustand oder unter Stress (17). Untersuchungen haben zum Beispiel gezeigt, dass Versuchspersonen mit Macht im Vergleich zu einer Kontrollgruppe mehr neue Produktnamen erfanden (3).
Vielleicht hast Du diesen Effekt schon einmal im Arbeitsalltag in Deinem Team erlebt, wenn Du Ideen für eine Geschichte besprichst oder Dir einen Titel ausdenkst. Als Redakteurin oder Redakteur fühlst Du Dich wahrscheinlich wohler und machst Vorschläge, die auf Deiner "Intuition" beruhen; bist Du hingegen die Reporterin oder der Reporter, dessen Arbeit redigiert wird, fühlst Du Dich vielleicht kontrollierter und weniger kreativ. Denke daran, dass gesunde Arbeitsbedingungen, in denen Macht auf unterstützende und ermutigende Weise ausgeübt wird, dem Gedankenaustausch unter Kolleginnen und Kollegen förderlich sind und fruchtbare, belebende Gespräche begünstigen (mehr über psychische Gesundheit für Journalistinnen und Journalisten erfährst Du im letzten Artikel dieser Serie). Eine weitere Strategie, die Redaktionen und Führungskräfte in ihre Teams einbringen können, ist die Selbstbestätigung anderer zu ermöglichen (z. B. die Bestätigung der Werte, Ressourcen, Einstellungen oder Verhaltensweisen der Teammitglieder), da eine solche Praxis erfolgreiche kognitive Prozesse zu fördern und die negativen Auswirkungen von Machtlosigkeit zu verhindern scheint (18).
Machtvolle Positionen fördern auch ein höheres Maß an Analyse und abstraktem Denken (6) - "abstrakte Informationsverarbeitung bedeutet, über die spezifischen Details von Reizen hinauszugehen, um das Wesentliche oder die wichtigsten und bedeutungsvollsten Teile zu extrahieren" (14). So fanden Forscher heraus, dass Teilnehmerinnen oder Teilnehmer, die sich mächtig fühlten, das Wort "Wählen" eher als "die Regierung verändern" umschrieben, während Personen mit geringem Machtgefühl es als "einen Stimmzettel ankreuzen" umschrieben (19). Außerdem ist die Verbindung zwischen Macht und abstraktem Denken so eng, dass sie in beide Richtungen wirkt (14): Menschen, denen Aufgaben gestellt wurden, die abstraktes Denken erfordern, äußerten ein stärkeres Machtgefühl, eine deutlichere Vorliebe für machtvolle Rollen sowie ein stärkeres Gefühl von Kontrolle über ihre Umwelt (20).
Angesichts dieser Erkenntnisse können Journalistinnen und Journalisten versuchen zu erkunden, ob abstrakte Fragen an Menschen in niedrigeren Machtpositionen über die Bedeutung eines Ereignisses für sie (oder die Motive hinter einer bestimmten Aktion) andere Antworten hervorrufen als konkrete Fragen über bestimmte Details (oder wie sie selbst eine bestimmte Handlung ausgeführt haben). Frage zum Beispiel: "Warum glaubst Du, dass dieses Ereignis für die Gemeinschaft wichtig ist?", statt "Welche Rolle spielst Du bei diesem Ereignis?".
Empowerte Menschen haben auch ein höheres Selbstvertrauen (3) und scheinen die Welt mehr aus ihrer eigenen Perspektive zu betrachten (6). In einem interessanten Experiment (21) wurden die Teilnehmenden gebeten, sich den Buchstaben E auf die Stirn zu schreiben: Menschen, die sich machtvoll fühlten, schrieben den Buchstaben eher aus ihrer eigenen Perspektive (und damit für andere spiegelverkehrt); Menschen, die sich machtlos fühlten, schrieben ihn so, dass er aus der Außenperspektive richtig herum zu lesen war (3).
Zusammengenommen tragen diese Auswirkungen von Macht auf kognitive Prozesse dazu bei, dass Menschen in Machtpositionen schnellere Entscheidungen treffen, ihre Ziele schneller verfolgen, ein stärkeres Gefühl der Kontrolle haben (3) und mehr Autorität (6) sowie soziale Distanz (22) ausüben.
Im Journalismus, wie auch im Leben, ist es wichtig, ein Gleichgewicht zu finden. Ein gewisses Maß an Macht ermutigt Reporterinnen und Reporter dazu, ihrem Verstand und ihrer Intuition zu vertrauen; gleichzeitig müssen sich Fachleute in die Überzeugungen und Gefühle derjenigen einfühlen, über die sie berichten, damit ihre Geschichten die anderen korrekt wiedergeben. Im nächsten Abschnitt werden wir erörtern, wie Journalistinnen und Journalisten diese Art von Verbindung zu ihren Quellen herstellen können, ohne ihre eigenen Werte und Perspektiven zu vernachlässigen.
3) Macht beeinflusst soziales Verhalten
Die Auswirkung von Macht auf das Sozialverhalten ist in mindestens zwei Bereichen besonders sichtbar: Aufmerksamkeit für andere und Selbstdarstellung.
Erstens neigen Menschen in Machtpositionen dazu, "sich in erster Linie an ihren wichtigsten Zielen zu orientieren, oft an der anstehenden Aufgabe", und weniger an anderen Menschen, vor allem, wenn diese Menschen nicht zu ihren Zielen beitragen (3). Mächtige Menschen scheinen auch weniger motiviert zu sein, auf die persönlichen Eigenschaften anderer Menschen zu achten und empfinden weniger Empathie für andere (3). Ein solcher Effekt kann sogar bei Menschen auftreten, die normalerweise einfühlsam sind und auf die Bedürfnisse und Wünsche anderer achten.
Keltner, der Hauptautor dieses Rahmenwerks, nennt dies "das Paradoxon der Macht", das Thema und Titel seines Bestsellers von 2016 ist. Im Podcast Speaking of Psychology erzählt Keltner die Geschichte einer "führenden Feministin aus einer marginalisierten Gruppe", die, nachdem sie in eine mächtigere Position aufgestiegen war, sagte: "Vorher habe ich viele Leute angesprochen, später habe ich den Draht zu ihnen verloren" (13). Neurologische Forschungen legen außerdem nahe, dass Menschen, die mit viel Macht ausgestattet sind, eine geringere Aktivierung des Gehirnareals aufweisen, das reagiert, wenn wir das Verhalten anderer beobachten, was darauf hindeutet, dass sie weniger dazu neigen, andere zu spiegeln (5).
Dieser besondere Effekt kann für Journalistinnen und Journalisten eine wichtige Selbstwarnung sein, wenn sie von vor Ort berichten. Sie konzentrieren sich manchmal so sehr auf ihre Ziele - mit den relevanten Akteuren zu sprechen, Antworten zu bekommen und so viele Informationen wie möglich über die Situation aufzunehmen - (und fühlen sich dazu berechtigt), dass sie vergessen, sensibel für die Bedürfnisse und Gefühle derer zu sein, über die sie berichten. Das erleben wir manchmal bei Eilmeldungen, wenn Reporterinnen oder Reporter über Tragödien berichten oder mit Menschen sprechen, die den Tod eines geliebten Menschen verkraften müssen. Sich dieser psychologischen Mechanismen bewusst zu sein, kann Journalistinnen und Journalisten helfen, sorgsam und ethisch sensitiv zu berichten.
"Empathie" ist ein Schlüsselwort für eine solche konstruktive Berichterstattung, wie eine Studie des American Press Institute (23) darüber zeigt, wie man Empathie in die Berichterstattung einbauen kann. Die Studie gibt unter anderem folgende Tipps:
- "Mach Deine Hausaufgaben, aber verhalte Dich nicht wie ein Experte", was bedeutet, dass Du viel recherchierst, aber trotzdem zugibst, dass Du nicht alles weißt.
- Frag die Leute, was Du vergessen hast.
- Tritt mit den Menschen aus der Gemeinschaft nicht nur an diesem einen Berichtstag in Kontakt, d.h. "sei nah an ihnen dran und geh nicht weg. Empathie entsteht durch Nähe".
- "Stell’ nicht nur Fragen - hör’ zu." Lane DeGregory, eine mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Journalistin der Tampa Bay Times, die in dieser API-Publikation erwähnt wird, schlägt vor, "den Leuten Raum zu geben, das Thema zu wechseln und ihnen zu erlauben, auf ihre eigene Weise zu einem Thema zu kommen. Sie wollen mit Dir reden, sie wollen nur selbst bestimmen, wie sie mit Dir reden".
Unten findest du weitere Tipps.
Ein höheres Maß an Macht scheint auch den Selbstausdruck und die soziale Enthemmung zu erhöhen: Mächtige Menschen äußern in Gruppendiskussionen eher ihre wahren Gedanken und Gefühle, ohne sich "der Mehrheitsmeinung anzupassen" oder sich "vom Ruf des Gegners beeinflussen zu lassen" (5). Das lässt sich zum Beispiel am Sprechverhalten beobachten: Einigen Studien zufolge neigen Machtinhaber dazu, zuerst und mehr zu sprechen als andere (3).
In typischen Debatten neigen Personen, die sich mächtig fühlen, dazu, andere zu unterbrechen, sich von der Masse abzuheben und ihren Gegnern weniger nachzugeben (6). Menschen in Machtpositionen werden daher als Menschen mit höherem sozialen Status und als überzeugender angesehen (6). Machtlose Menschen hingegen neigen dazu, sich eher zurückzuhalten, ihr Handeln von anderen abhängig zu machen (4) und sich bei Verhandlungen stärker von anderen beeinflussen zu lassen (5), "was sie von ihrem eigentlichen Ziel ablenkt" (6).
In Dänemark hat eine Gruppe namens Frirummet (Freiraum) ein alternatives Debattenformat entwickelt - Freiraumdebatte - um zu verhindern, dass Menschen übereinander reden, und um mehr kollektiv geführte Lösungen zu fördern. Bei diesem Debattenformat gibt es neben zwei Teilnehmenden, die sich über ein bestimmtes Thema uneinig sind, auch eine Moderation und einige Personen im Publikum, die am Ende der Sitzung eine aktive Rolle spielen. Das Modell besteht aus drei Runden (jeweils ca. 20 Minuten): 1) Der Konflikt wird beschrieben und jeder Teilnehmer oder jede Teilnehmerin formuliert klar den eigenen Standpunkt; 2) die Teilnehmenden werden aufgefordert, über die Antworten der anderen nachzudenken und die Stärken der gegnerischen Ideen und sogar mögliche Gemeinsamkeiten anzuerkennen; diese Phase zielt auf eine nuanciertere Sichtweise des Themas ab; und 3) das Publikum wird aufgefordert, sich in das Gespräch einzubringen, und die Gruppe versucht, Lösungen und Initiativen zu finden, die die verschiedenen Vorschläge berücksichtigen, die auf den Tisch kommen. (In der Broschüre Listen Louder des Constructive Institute sowie im nächsten Artikel zu Mediation findest Du weitere Beispiele für gute Praktiken, um der Polarisierung entgegenzuwirken).
Wie wir bisher gelernt haben, scheint Macht Menschen zu ermutigen und ihre Bereitschaft zum Sprechen, Denken und Handeln zu stimulieren, während sie gleichzeitig den Fokus auf Belohnungen und zielrelevante Informationen lenkt, manchmal zum Nachteil der Bedürfnisse anderer. Sie scheint auch zu mehr sozialer Enthemmung zu führen (4). Geringe Macht aktiviert dagegen eine größere Aufmerksamkeit für Anzeichen von Bedrohung und für die moralischen Urteile anderer. Dies führt tendenziell zu einer Hemmung des Sozialverhaltens und zu Handlungen, die stärker durch andere bedingt sind (4). Wie wir zu Beginn dieses Artikels bereits gesagt haben, ist Macht jedoch weder schwarz oder weiß, noch ist sie "statisch" (4). Macht wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst und gemildert und verändert sich im Laufe der Zeit und unter verschiedenen Umständen.
Nuancen von Macht
Wie die Autoren der Annäherungs-Vermeidungs-Theorie der Macht in ihrer wegweisenden Arbeit sagen: "Der scharfsinnige Leser wird zweifellos Gegenbeispiele zu unseren verschiedenen Vorhersagen gefunden haben" (4). Nicht jede Person, die ein politisches Amt innehat, verhält sich und kommuniziert auf die gleiche Weise, nur weil er oder sie eine Machtposition ausfüllt. Ihr Verhalten wird von ihren persönlichen Eigenschaften (physisch und psychisch), ihrem Geschlecht, ihrem Engagement für das Amt, der Unterstützung ihrer Wählerschaft und vielen anderen Faktoren beeinflusst (4).
Die Forschung hat einige Kontextfaktoren ermittelt, die sich auf die Art und Weise auswirken, wie Macht von denjenigen gelebt wird, die sie ausüben (5). Wenn zum Beispiel die Macht instabil ist, fürchten die Mächtigen, dass ihre Position gefährdet sein könnte, und sie achten mehr auf die Meinungen und das Verhalten der anderen und nähern sich ihnen manchmal an (5). Ein weiterer Faktor ist die Rechenschaftspflicht: Wenn das Verantwortungsbewusstsein und die Wachsamkeit größer sind, scheinen die Machthaber die Interessen anderer eher zu berücksichtigen (4) - man denke an demokratische Prozesse im Gegensatz zu autoritären oder absolutistischen Formen der politischen Macht.
Ein weiterer Faktor, der berücksichtigt werden muss, ist die Frage, ob wir von Machtgefühl oder tatsächlichen Machtpositionen sprechen. Eine Forschungsgruppe hat herausgefunden, dass der Zusammenhang zwischen subjektivem Machtgefühl und Machtposition nicht immer eindeutig ist, d.h. dass die Machtposition nicht der einzige Faktor ist, der dazu führt, dass sich Menschen mächtig fühlen (24). In der Studie berichteten einige Personen in einer niedrigen Machtposition, dass sie sich mächtiger fühlten, als es aufgrund ihrer Position zu erwarten gewesen wäre. Die Autoren glauben, dass ein solcher Effekt auf eine verzerrte Realitätswahrnehmung zurückzuführen sein könnte, "um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass sie Kontrolle haben", oder aber auf die Relativität von Machtpositionen - "sie hatten etwas Kontrolle, aber jemand anderes hatte mehr" (24). So oder so deuten die Ergebnisse darauf hin, dass das Gefühl, mächtig zu sein, die negativen Auswirkungen einer tatsächlich niedrigen Machtposition aufhalten kann, insbesondere in Bezug auf Glück und Stimmung (24).
Die Auswirkungen von Macht hängen auch von kulturellen Faktoren ab, also nicht nur von der Art und Weise, wie Macht ausgeübt wird, sondern auch davon, wie sie wahrgenommen wird (6). Einige Studien haben zum Beispiel herausgefunden, dass in westlichen - meist individualistischen - Kulturen Macht mit Freiheit, Belohnung und der Möglichkeit, eigene Wünsche zu verwirklichen, assoziiert wird, während östliche - und andere kollektivistische - Kulturen "die Tugend der Zurückhaltung und Verantwortung der Mächtigen betonen" (6).
Journalistinnen und Journalisten sollten bei der Interpretation von Machtverhältnissen nicht nur kulturelle Faktoren berücksichtigen, sondern auch anderen kontextuellen Faktoren und persönlichen Variablen besondere Aufmerksamkeit schenken, da sie aussagekräftige Anhaltspunkte für die Interpretation von Veränderungen und Nuancen im Verhalten der Mächtigen liefern können. Wenn sich zum Beispiel eine Person in einer Machtposition zurückhaltender verhält, kannst Du überlegen, ob das eine Frage des persönlichen Stils, der Umstände, einer versteckten Agenda oder anderer Faktoren ist. Unterschätze nicht den Wert und die Wirkung einer vielschichtigen Berichterstattung. (Tipps, wie du vereinfachende Erklärungen gezielt vermeiden kannst, findest Du in Artikel 4 dieser Serie).
Tools und Tipps
Im Journalismus könnten wir sagen, dass Profis die Macht der Feder nutzen, um über Macht zu berichten. Im Folgenden schlagen wir einige Fragen und Tipps vor, die von der Annäherungs-Hemmungs-Theorie der Macht und der Studie "The empathetic newsroom" (23) inspiriert sind, um Dir mögliche Machteinflüsse in Deiner Arbeit bewusst zu machen und sie abzuschwächen.
1) In Deiner beruflichen Praxis
Bei der Auswahl eines Themas oder einer Fragestellung:
- Überlege, was Dich auf das Thema aufmerksam gemacht hat, an dem Du gerade arbeitest. Woher hast Du die Informationen: War es eine persönliche Erkenntnis oder Neugierde? Eine Idee von jemand anderem? Eine Pressemeldung? Denke darüber nach, welche Interessen hinter Deinen Quellen stecken könnten. Sei auf der Hut vor Kräften, die die Agenda beeinflussen möchten.
- Frag Dich selbst: Übst Du in dieser Geschichte hauptsächlich "Macht über" jemanden oder etwas aus (als Watchdog, der Macht hinterfragt), ist es „Macht um" (z. B. das Potenzial bestimmter Orte, Menschen oder Ereignisse aufzudecken – ein im Lösungsjournalismus besonders bedeutsamer Ansatz) oder "Macht innerhalb" (Deiner eigenen sozialen Bedingungen und Identitäten, die Du z. B. nutzt, um eine Geschichte zu erzählen)? (Diese Frage ist durch den Power cube-Ansatz von John Gaventa inspiriert; 25).
In der Recherche:
- Überlege Dir, wen Du in den öffentlichen Diskurs einbeziehst. Fragst Du nur die "üblichen Verdächtigen" - diejenigen, die sich schon oft zu diesem Thema geäußert haben oder die sich bereits ermächtigt fühlen, in den Medien zu sprechen? Wen hast Du übersehen?
- Denke konkret an die Geschichte, an der Du gerade arbeitest: Finde eine Person, von der Du überrascht wärst, wenn Deine Kolleginnen oder Kollegen sie interviewen würden, wenn sie die Geschichte schreiben würden. Oder frage im Team, von welcher Person sie nie erwarten würden, dass Du sie in diesem Zusammenhang interviewst.
- Bereite "Fragen mit dem Bewusstsein vor, dass es eine Menge gibt, was Du nicht weißt" (23).
- "Verbringe Zeit damit, Dir die Sorgen und Fragen der Personen in einer Gemeinschaft anzuhören, und sprich sie in Deinen Geschichten an" (23).
In Interviews und anderen Interaktionen:
- Schätze ein, ob Du Dich mächtiger oder weniger mächtig fühlst als die Person, die Du interviewen wirst. Wenn Du Dich mächtiger fühlst, solltest Du besonders aufmerksam zuhören und nicht sprechen. Wenn Du Dich weniger stark fühlst, sei bei der Vorbereitung des Gesprächs besonders sorgfältig und/oder gründlich. Information ist Macht: Über je mehr Informationen Du verfügst, desto selbstbewusster wirst Du Dich fühlen und desto schärfer werden Deine Fragen sein. Achte außerdem darauf, aufrecht zu sitzen oder zu stehen und eine ausladende Körperhaltung einzunehmen, anstatt eine unsichere oder schützende Haltung mit gerundeten Schultern (auch wenn es umstritten ist, deuten einige Forschungsegebnisse darauf hin, dass die Körperhaltung die Selbstwahrnehmung von Macht beeinflussen kann; eine Meta-Analyse von 2022 und eine Zusammenfassung der Kontroverse findest Du bei 26).
- Erkenne die Menschlichkeit in jeder Person an. Wenn sich jemand gehemmt verhält, versuche zu verstehen, was er oder sie als Bedrohung empfindet (z. B. Gefahr von körperlichem Schaden als Folge von sozialem Engagement, sozialer Ablehnung, Stereotypisierung) und was ihm oder ihr helfen könnte, sich selbstbewusster zu fühlen.
- Überlege Dir auch, ob Du Menschen mit weniger sozialer Macht mehr Zeit gibst, ihre Meinung auszuführen, damit sie sich über eventuelle Hemmnisse hinwegsetzen und ihre wahren Gedanken und Gefühle ausdrücken können.
- Im Gegenteil: Wenn Du feststellst, dass Einzelpersonen oder Gruppen, die normalerweise zu den "Machtlosen" gehören, sich mehr als sonst äußern, überlege, was sie dazu ermutigen könnte, sich zu äußern. Ist das Machtgefüge bedroht? Sind sie im Besitz von Ressourcen, die ihr "Annäherungssystem" aktiviert haben (Informationen, Geld, öffentliche Unterstützung, Entscheidungsmöglichkeiten...)?
- Behalte bei Podiumsdiskussionen die Redezeit jeder Person im Auge und versuche, ein Gleichgewicht angesichts stärkerer Beteiligung und eventueller größerer Redegewandtheit der Machthaber herzustellen. Wenn nötig, lege vor der Diskussion Regeln fest und frage alle Gäste, ob sie etwas hinzufügen möchten und ob sie sich bereit erklären, daran erinnert zu werden, falls diese Regeln während der Diskussion ignoriert werden.
Im Schnitt und beim Geschichtenerzählen:
- Welche Machtebenen spielen in Deiner Geschichte eine Rolle: lokal, national, regional, global? Mehr als eine? Überprüfe, ob Dir auf jeder Ebene klar ist, warum die Geschichte wichtig ist.
- Sei Dir bewusst, aus welchen Gründen Du einige Informationen beibehältst und andere nicht mit hinein nimmst.
- Wenn Du Fakten überprüfst, solltest Du Dir bewusst sein, dass Du die Informationen von einigen Quellen leichter akzeptierst als anderen, je nachdem, wie viel Macht sie haben: Entweder gehst Du automatisch davon aus, dass Fakten korrekt sind, die von jemandem in einer mächtigen Position zur Verfügung gestellt werden (z. B. eine Wissenschaftlerin, die über ein technisches Thema spricht), oder Du ordnest die emotional aufgeladenen persönlichen Berichte von jemandem in einer machtlosen Position als weniger glaubwürdig ein.
- In Bezug auf Communities solltest Du "nach großen Projekten öffentliche Versammlungen einberufen, damit die Mitglieder der Community sich dazu äußern können, was gut funktioniert hat und was besser hätte gemacht werden können" (23).
2) Besonders, wenn Du redaktionell arbeitest oder ein Team leitest
- Achte bei der Einstellung von neuen Teammitgliedern auf deren Leidenschaften und Interessen und erlaube ihnen, diesen nachzugehen (23).
- Bringst Du die Ziele der Organisation mit den Bedürfnissen und dem Wohlbefinden Deines Teams in Einklang? "Du konzentrierst Dich auf den Wald, wenn Du für die Bäume zuständig bist", wie Smith und Trope in ihrem Artikel über Macht und abstraktes Denken sagen (19). Versuche von Zeit zu Zeit, den "Bäumen" etwas Zeit zu widmen. Fachkräfte lassen sich eher auf kollektive Anstrengungen ein, wenn sie sich nicht übersehen oder unterbewertet fühlen (27).
- Ist Dein Team ein sicherer Raum, in dem sich die Menschen nicht durch Macht oder Hierarchie bedroht fühlen und das Gefühl haben, dass sie ihre ethischen Dilemmata offenlegen können, ohne verurteilt zu werden? Ein solches Organisationsklima kann einen konstruktiven Umgang mit der Arbeit und mit Problemen fördern (27).
3) Schließlich, zur Selbstreflexion
- Erinnere Dich an einen Moment in Deinem Leben, in dem Du Dich mächtig gefühlt und Kontrolle über die Situation erlebt hast. Erinnere Dich jetzt an einen Moment, in dem Du Dich machtlos gefühlt hast.
- Nimm Dir eine Minute Zeit, um über jede Situation nachzudenken: Deine emotionalen Zustände und wie Du damit umgegangen bist... persönliche Eigenschaften, die dazu beigetragen haben, dass Du Dich mächtig bzw. machtlos gefühlt hast... Dein Verhalten, je nachdem, wie viel Macht Du hattest (Tonfall, Körperhaltung, Annäherungs- und Ausweichbewegungen, Geschwindigkeit der Entscheidungsfindung...)...
Wir glauben, dass die Erkenntnisse aus dieser Übung Dir in Zukunft helfen werden, nicht nur Situationen in Deinem eigenen Berufsleben zu meistern, sondern auch die Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen derjenigen, über die Du berichtest, besser nachzuempfinden und zu verstehen.
Über die Autorinnen der Serie
Margarida Alpuim ist eine portugiesische Psychologin und Journalistin. Sie hat ihren Master in Gemeindepsychologie an der Universität von Miami absolviert und sich dabei auf Themen rund um kollektives Wohlbefinden konzentriert. Als Journalistin möchte Margarida konstruktivere Wege gehen, um Geschichten zu erzählen und dabei sowohl das Publikum als auch Fachleute berücksichtigen. Heute arbeitet Margarida von Lissabon aus an innovativen Projekten, um Psychologie und Journalismus zusammenzubringen.
Katja Ehrenberg ist promovierte Psychologin und Professorin an der Hochschule Fresenius in Köln. Seit bald 25 Jahren lehrt, forscht und publiziert sie zu anwendungsnahen Themen der Sozial-, Kommunikations-, Organisations- und Gesundheitspsychologie. Als freie systemische Beraterin begleitet sie Teams und Einzelpersonen und genießt es, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse für die unterschiedlichsten praktischen Herausforderungen im menschlichen (Arbeits-)Alltag nutzbar zu machen.
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